Javier Marías: Mein Herz so weiß

  Menschliche Abgründe

Lange galt das preisgekrönte Werk des Spaniers Javier Marías in Deutschland als schwer vermittelbar. Zum Durchbruch verhalf ihm das Literarische Quartett vom 13.06.1996, in dem Marcel Reich-Ranicki, Hellmuth Karasek, Sigrid Löffler und Hajo Steinert seinen erstmals 1992 in Spanien veröffentlichten, 1996 ins Deutsche übersetzten Roman Mein Herz so weiß euphorisch lobten und ihn über Nacht zum Bestseller machten. 2022 verstarb der 1951 in Madrid geborene Autor kurz vor dem Gastlandauftritt Spaniens bei der Frankfurter Buchmesse, Anlass für mich, nun endlich seinen erfolgreichsten Roman zu lesen.

Ein furioser Auftakt
Mein Herz so weiß
beginnt mit einem Paukenschlag, einem Ereignis, das sich etwa 40 Jahre vor Beginn der eigentlichen Handlung zutrug. Völlig überraschend erschießt sich die junge Teresa, ihr Mann Ranz, Vater des Ich-Erzählers Juan, wird zum zweiten Mal Witwer. Juan wird erst einige Zeit nach diesem Drama geboren, seine Mutter ist Ranz‘ dritte Ehefrau und Teresas jüngere Schwester. Über der Tragödie liegt der Mantel des Schweigens.

Wer nun eine Krimihandlung erwartet, wird enttäuscht. Erst auf den letzten Seiten und nach vielen Handlungen an wechselnden Orten wird Teresas Motiv eher zufällig enthüllt, ohne Absicht von Juans Seite:

Ich wollte es nicht wissen, aber ich habe erfahren, daß eines der Mädchen, als es kein Mädchen mehr war, kurz nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise das Badezimmer betrat, sich vor den Spiegel stellte, die Bluse aufknöpfte, den Büstenhalter auszog und mit der Mündung der Pistole ihres eigenen Vaters, der sich mit einem Teil der Familie und drei Gästen im Eßzimmer befand, ihr Herz suchte. (1. Satz, S. 9)

Zuvor berichtet Juan von seiner Hochzeitsreise mit Luisa, wie er in Havanna das dramatische Gespräch eines Liebespaares belauscht, und von seinen Zweifeln und bösen Vorahnungen nach der Eheschließung.

© B. Busch

Viele Variationen verschiedener Themen
Mit nur wenigen Dialogen und in langen, bis ins kleinste Detail eingefangenen Szenen variiert Javier Marías universelle Themen wie Liebe, Leidenschaft, Sex, Ehe, Tod, Verbrechen, Schuld und die Sprengkraft von Geheimnissen:

Du siehst, das eigene Leben hängt nicht von den eigenen Handlungen ab, davon, was man tut, sondern davon, was die anderen von einem wissen, was sie wissen, daß man getan hat. (S. 348)

Als Simultandolmetscher bei großen internationalen Organisationen und Sprachfetischist weiß Juan um die Macht des gesprochenen genauso wie des verschwiegenen Wortes. Herausragend und humorvoll ist die Szene, als er den dröge dahindümpelnden Smalltalk zweier Staatschefs durch kreative Übersetzungen belebt, während die ihm noch unbekannte, als Ko-Übersetzerin Luisa in seinem Rücken zuckt, aber nicht eingreift. Andere Szenen, wie die Partnersuche seiner ehemaligen Kommilitonen Berta, waren mir dagegen zu ausufernd und abstoßend.

Bezüge zu Macbeth und Blaubart
Ich habe Mein Herz so weiß zwar nicht so begeistert gelesen wie Marcel Reich-Ranicki und seine Kollegen, doch kann ich die Einordnung als literarisch perfekt durchkomponiertes Meisterwerk verstehen. Genial verwoben sind die Bezüge zu Macbeth, nicht nur im Romantitel, sowie zum Märchen Blaubart. Allerdings mochte ich die Bandwurmsätze nicht und Juans völlig emotionslose, maximal distanzierte Schilderung seiner Beziehung zu Luisa und der frisch geschlossenen Ehe hat mich befremdet. Den langen philosophischen Gedankengängen Juans bin ich teils mit Freude gefolgt, manchmal haben sie mich aber auch ermüdet.

Ein nicht einfach zu lesender Roman, doch lohnt die Mühe.

Javier Marías: Mein Herz so weiß. Aus dem Spanischen von Elke Wehr. Mit einem Nachwort von Rainer Traub.  Spiegel-Verlag 2006/2007

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert